Mahlers Siebte in Petrenkos Deutung
Gustav Mahler: Symphony Nr. 7 | Bayerische Staatsoper Recordings BSOREC001 |
Ein schöneres Zeugnis der Zusammenarbeit kann es kaum geben. Zwar lagen die sieben Jahre an der Spitze des Bayerischen Staatsorchesters schon hinter Kirill Petrenko, längst stand er an der Spitze der Berliner Philharmoniker, da veröffentlichte die Bayerische Staatsoper im Mai 2021 die Liveaufnahme von Mahlers Siebter Symphonie. Dieser Konzertmitschnitt vom Mai 2018 ist die erste CD des neuen hauseigenen Labels Bayerische Staatsoper Recordings.
Das Bayerische Staatsorchester hat seine Hauptaufgabe im Orchestergraben des Münchner Nationaltheaters; auf dessen Bühne veranstaltet es auch seine traditionellen Sinfoniekonzerte, die in München immer noch Akademiekonzerte heißen. Regelmäßige Auftritte mit sinfonischem Repertoire sind wichtig für ein Opern-Spitzenorchester, um neben der hohen Messlatte des Opernrepertoires auch immer wieder die völlig anders geartete Konzertpräsenz zu trainieren und zu erproben.
Diese Konzertaufnahme von Mahlers Siebter Symphonie ist eine Wucht. Allein schon die Opulenz, mit der das Orchester agiert und die von Tonmeister Wolfram Nehls in allen Registern klangdramaturgisch bestechend abgebildet wird, nagelt Hörer*innen in den Sessel. Hören Sie doch einmal den Symphoniebeginn mit seinem Reiz der tiefen Töne:
Die vibrierende Spannung, die Petrenko hier entfacht, entsteht durch die Überpunktierung vor den Zweiunddreißigstel-Noten. Dadurch wird das langsame Hauptzeitmaß mit einem Netz von Impulsfunken überzogen, die elektrisierend wirken.
Es ist eine Spezialität von Petrenko, mit seiner kompromisslosen Entflammtheit scheinbar bekannte Partituren immer wieder neu zu lesen. Beim Anhören dieser CD ist es mir mehrmals passiert, dass ich meinte, in dieser wohlbekannten Musik völlig unbekannte Effekte zu hören. Ein Blick in die Partitur bewies mir jedesmal, dass alles genau so von Mahler konzipiert war; nur haben es wenige Dirigenten derart radikal genau gelesen und umgesetzt wir Kirill Petrenko.
Petrenko lächelt viel, ist im persönlichen Umgang äußerst konziliant, dabei aber nicht nur den Medien gegenüber fast schon pathologisch scheu. Es scheint, als spare er alle Kräfte, alle Emotionen für seine musikalische Arbeit. In seiner musikalischen Welt ist er bei den Proben geradezu detailversessen und perfektionistisch; am Abend, im Konzert, kann er jedoch völlig loslassen. Das durch die Probenarbeit exzellent vorbereitete Orchester spürt dies als einen enormen Kraftschub von musikalischer Freiheit, die viele Konzerte Petrenkos zum außergewöhnlichen Ereignis werden lässt.
Ich habe ein Beispiel vom Beginn des zweiten Satzes ausgewählt, um Ihnen Petrenkos Detailfreude, aber auch seine Versessenheit beim Herausarbeiten von Mahlers herausfordernden musikalischen Einfällen vorzuführen. Es ist die Vorbereitung des ersten klanglichen Höhepunktes in dieser ersten Nachtmusik: Die glucksenden Klarinetten entspannen ein rhythmisches Geflecht, das sich mit Hinzunahme weitere Instrumente immer mehr verdichtet. Zwei Takte lang peitscht dann die Rute das Orchester zum Höhepunkt, von dem aus es – wiederum in nur zwei Takten – in einem auskomponierten Glissando über vier Oktaven in den Schlund eines Abgrunds hinabstürzt. Fast wie im Märchen landet man aber auf einer grünen Wiese bei lieblichem Hörnerklang.
Solcherart Effekte finden sich mannigfach; alle sind von Mahler erdacht, von seinem inneren Ohr gehört, aber selten nur in dieser Konsequenz und Brillanz ausgeführt. Die Genialität des Dirigenten Kirill Petrenko liegt nun eben darin, dass er die herausgearbeiteten Einzelheiten nie als Selbstzweck ansieht, sondern als organische Elemente eines großen gestalterischen Bogens. Den verliert Petrenko trotz aller Detailversessenheit nie aus den Augen, und das macht ihn zu einem unvergleichlichen musikalischen Architekten.
In einem Rundfunkgespräch, einem seiner raren Interviews, hat mir Kirill Petrenko einmal erzählt, wie viel er seinem Wiener Dirigierlehrer Uroš Lajovic verdankt. Gerade für die in Form und Inhalt so hypertrophen Mahler-Symphonien seien die Analysen seines Lehrers und dessen Hinweise zur dirigentischen und schlagtechnischen Umsetzung ungeheuer wichtig gewesen. Petrenkos Lehrer Lajovic wiederum war in Wien Schüler und Nachfolger des legendären Hans Swarowsky, dessen Schriften nicht von ungefähr mit Wahrung der Gestalt betitelt sind.
Ich bin fasziniert von den wunderbaren Entdeckungen, die Petrenkos Aufnahme bietet. Eine ähnliche Glissando-Stelle wie in der ersten Nachtmusik findet sich in dem wie ein nächtlicher Spuk schattenhaft vorbeihuschenden Scherzo: Da ächzt und stöhnt ein auskomponiertes, in der Bassklarinette sogar notiertes Glissando und findet seinen Nachklang in den absteigenden Sekundschritten der ersten Geigen. Das spielt sich alles auf engstem Raum ab und ist von Petrenko ungeheuer fein ausgehört und vom Orchester grandios gestaltet:
Alles, was hier so bewundernswert selbstverständlich klingt, ist das Ergebnis von Petrenkos harter Arbeit, die dem Orchester hörbar in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ich könnte endlos weiterschwärmen von den vielen Feinheiten und stupenden Details, die Petrenko auf kleinstem Raum herausarbeitet, wie alle raschen Wechsel, ja Gleichzeitigkeiten an Motiven und strukturellen Überlagerungen, die Mahlers Partituren so einzigartig machen. Petrenkos Lesart straft all diejenigen Lügen, die Mahlers Partituren als überbezeichnet hinstellen. Nicht nur kleinste Temporückungen werden von Petrenko nachvollzogen, sondern auch jede Abstufung von Mahlers dynamischen Bezeichnungen, Akzenten und Schwellern. Dabei ist nichts an dieser Interpretation reißerisch: Weder die Tempi, noch die Dynamik wirken überdehnt oder sind auf bestimmte Effekte hin angelegt. Petrenko erweist sich als ein Klangmagier, der all diese Details aus Mahlers Partituren und dem Orchester herausholt. Er ist ein begnadeter Orchesterleiter, charismatisch, wie ich es seit dem (völlig anders gearteten) Mahler-Exegeten Claudio Abbado nicht mehr erlebt habe. Ein Glücksfall – und diese CD zeugt davon.
Übrigens hat Petrenko ja gleich zu Beginn seiner Berliner Amtszeit Mahlers Sechste aufs Programm gesetzt; wer diese Aufführung im Fernsehen gesehen hat (in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker ist sie noch verfügbar), kann sich auch im Bild von der geradezu mönchischen Innerlichkeit wie erleuchteten Ekstatik Petrenkos überzeugen.
Mahlers Siebte Symphonie ist ja nicht ganz unproblematisch durch das angeflanschte Finale, diesen manisch-ungehemmten C-Dur-Jubel. (Arnold Schönberg meinte in der zwangsweisen Abgeklärtheit seines kalifornischen Exils und nach etlichen Zwölftonschlachten sogar, es sei immer noch viel gute Musik in C-Dur zu komponieren.) Doch mit dieser programmatischen Affirmation geht Petrenko genau so souverän um wie mit der Gebrochenheit der vorangegangenen Sätze: Bei ihm klingt alles wahrhaft und authentisch.
1908 hat Mahler seine Siebte erstmals in München aufgeführt, einen guten Monat nach der Prager Uraufführung. 110 Jahre später dirigierte Kirill Petrenko diese Symphonie im hier mitgeschnittenen Konzert. Mit dem Bayerischen Staatsorchester befand er sich dabei im Münchner Nationaltheater auf derselben Bühne, auf der Wagners Meistersinger, nach denen das Finale von Mahlers Siebter in der C-Dur-Affirmation über lange Strecken klingt, uraufgeführt wurden. Das Bayerische Staatsorchester legt mit Kirill Petrenko als Zeugnis geradezu symbiotischer Partnerschaft eine Aufnahme vor, wie sie partiturgetreuer und virtuoser kaum zu realisieren ist.