Im Dienste der Musik Mahlers

Die Internationale Gustav Mahler Gesellschaft (IGMG)

Peter Revers (01/2023)

zuletzt aktualisiert 25/01/2024

Gründung der Gesellschaft und Präsidentschaft von Erwin Ratz

Die Initiative zur Gründung der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft (IGMG) im für die österreichische Nachkriegsgeschichte bedeutsamen Jahr 1955 ging entscheidend von den Wiener Philharmonikern aus. Wenngleich sich dieses Orchester in der Nazi-Zeit keineswegs frei von antisemitischen Aktivitäten verhalten hatte, war sein Engagement für die Gründung der IGMG von entscheidender Bedeutung für die spätere internationale Durchsetzung von Mahlers Musik. Die Auseinandersetzung mit Mahlers Schaffen war auch zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kontrovers und oft weiterhin von antisemitischen Ressentiments bestimmt. Nur wenige international renommierte Orchester und Dirigenten setzten sich für sein Werk ein und die Zahl der Aufführungen seiner Werke war überschaubar, eine Situation, die bis weit in die 1960er Jahre anhielt.

Bereits am 3. Juni 1945, weniger als vier Wochen nach Kriegsende, führten die Philharmoniker Mahlers Erste Symphonie unter der Leitung von Robert Fanta auf und übernahmen daneben die Kosten für die Pflege von Mahlers Grab am Grinzinger Friedhof. Im Mai 1954 baten sie Bruno Walter die Präsidentschaft einer zu gründenden Mahler-Gesellschaft zu übernehmen. Walter antwortete zwar prinzipiell positiv, schlug aber vor, zunächst eine diesbezügliche Anfrage an Gustav Mahlers Witwe Alma Mahler zu richten. Alma Mahlers Schreiben an den Vorstand der Wiener Philharmoniker Hermann Obermeyer war allerdings ernüchternd. Sie warf sowohl dem Orchester als auch der Republik Österreich ein verwerfliches Verhalten gegenüber Mahler und ihr vor und lehnte jegliche Mitwirkung an einer Mahler-Gesellschaft ab. Dennoch ließen sich die Philharmoniker von ihrem Engagement nicht abbringen. Letztlich änderte Alma Mahler ihre Haltung und förderte die IGMG in vielfältiger Weise, vor allem durch die Zusage, alle in ihrem Besitz befindlichen Manuskripte Mahlers für eine Mikroverfilmung zur Verfügung zu stellen, eine wesentliche Voraussetzung für die Erstellung einer Kritischen Gesamtausgabe.

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Die offizielle Gründung der IGMG erfolgte am 11. November 1955: Erwin Ratz wurde als Präsident gewählt, Alma Mahler zum Ehrenmitglied und Bruno Walter zum Ehrenpräsidenten ernannt. Ratz (1898–1973) war Schüler Guido Adlers, Arnold Schönbergs (ab 1917) und Anton Weberns (ab 1925), zusammen mit Schönberg und 18 weiteren Mitgliedern von dessen Schüler- und Freundeskreis Gründer des Verein für musikalische Privataufführungen und unterrichtete von 1945 bis zu seinem Tod 1973 Formenlehre an der Akademie/Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien (seit 1957 als Professor). Dem ersten Vorstand der IGMG gehörten bedeutende Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft an wie etwa Theodor W. Adorno, Ernst Krenek, Rafael Kubelík, Rudolf Mengelberg, Georg Solti, Eduard Reeser und Donald Mitchell sowie – seitens der Philharmoniker – Geschäftsführer Helmut Wobisch und Vorstand Hermann Obermeyer. Eine wichtige Initiative seitens der Wiener Philharmoniker im Gründungszeitraum waren die Aufführungen von Mahlers Neunter Symphonie am 2./3. März 1957 unter der Leitung von Rafael Kubelík, in deren Rahmen auch der Artikel „Aufgaben und Ziele der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft“ in den Musikblättern des Orchesters veröffentlicht wurde.

Die Frühzeit der IGMG fiel in die Phase einer weiterhin sehr zögerlichen Rezeption Mahler’scher Symphonien. Umso mehr bedurfte es eines hohen Engagements seitens der IGMG, allen voran ihres Präsidenten Erwin Ratz, der wesentlich das Profil Mahlers als „Bahnbrecher für die neue Musik“ forcierte. Ratz’ Hauptinteresse war einerseits die analytische, dem Denken Schönbergs verpflichtete Auseinandersetzung mit Mahlers Werken, andererseits die Etablierung einer Kritischen Gesamtausgabe. Erst diese würde eine solide wissenschaftliche Werkbetrachtung und die Grundlage für textkritisch fundierte Aufführungen des Mahler’schen Œuvres gewährleisten. In weitaus geringerem Maße befasste sich Ratz mit der Biografie Mahlers, ein Unternehmen, das in weiterer Folge hauptsächlich von Henry Louis de La Grange, Donald Mitchell und Edward E. Reilly verfolgt wurde. Diese Schwerpunktsetzung der IGMG-Aktivitäten sowie der Wunsch nach einer Steigerung der Aufführungszahlen und damit einer stärkeren Popularisierung Mahlers fanden nicht zuletzt in den Statuten der IGMG Niederschlag: Die „Förderung des Werkes Gustav Mahlers durch Aufführungen, Herstellung von Schallplatten und anderen Tonträgern, durch Anregung und Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten, durch Fühlungnahme mit den Rundfunkgesellschaften sowie durch Vorträge“ standen dabei an oberster Stelle. Darüber hinaus galt es, eine „umfassende Dokumentation von Quellen und Literatur“ nach dem Vorbild des Bonner Beethoven-Archivs, eine Mahler-Bibliothek sowie eine Publikationsreihe zu etablieren, in der wichtige Forschungsergebnisse in Bezug auf Mahler publiziert werden sollten. Schließlich wurde das Vorhaben verfolgt, die Wirkungsstätten von Mahlers Schaffen, insbesondere die „Komponierhäuschen“, zu erhalten und einem interessierten Publikum zugänglich zu machen. All dies beanspruchte viel Zeit und Energie sowie finanzielle Unterstützung, die in der Anfangszeit nur aus Mitgliedsbeiträgen der Gründer, Förderer und Mitglieder der IGMG, bald aber auch durch Subventionen sowohl des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst als auch des Kulturamts der Stadt Wien erbracht wurde. Zugleich erfolgte eine allmähliche Internationalisierung der Mahlerforschung durch ausländische Mahler-Gesellschaften, wobei der Gründung der niederländischen Mahler-Stiftung (1956) besondere Bedeutung zukommt.

Die genannten Zielsetzungen führten innerhalb der ersten beiden Jahre nach Gründung der IGMG bereits zu einem umfassenden Archiv von Manuskripten und von Mahler korrigierten Partituren, einem Tonträger-Archiv und einer ca. 1.500 Titel umfassenden Bibliothek. Ratz’ Initiativen zur Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins von Mahlers Werk zeigte sich auch in der Verleihung der Goldenen Mahler-Medaille für besondere musikalische Verdienste um Mahler an bedeutende Dirigenten wie Carl Schuricht oder Eduard van Beinum. Rundfunkproduktionen der Sechsten und Siebten Symphonie bildeten weitere wichtige Stationen der späten 1950er Jahre auf dem Weg zum Jubliäumsjahr 1960 aus Anlass von Mahlers hundertstem Geburtstag.

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Das Jubiläumsjahr 1960 und die Folgewirkungen

Fraglos bildete dieses Jahr einen entscheidenden Wendepunkt in der bis dahin eher verhaltenen Mahler-Rezeption, und dies in mehrfacher Weise. In wissenschaftlicher Hinsicht kommt vor allem Theodor W. Adornos 1960 erschienener Monographie Mahler. Eine musikalische Physiognomik, nach wie vor ein Grundlagenwerk der Mahlerforschung, hohe Bedeutung zu. Eine umfangreiche Ausstellung „Gustav Mahler und seine Zeit“ in der Wiener Secession ermöglichte es einem breiten Publikum, Leben, Werk und kulturelles Umfeld von Mahlers Wirken näher kennen zu lernen. Und auch die Aufführungszahlen erfuhren eine beträchtliche Steigerung, ganz im Sinne der von der IGMG angestrebten Verbreitung von Mahlers Schaffen. Für die IGMG von besonderer Bedeutung war die Veröffentlichung des ersten Bandes der Kritischen Gesamtausgabe, der im Verlag Bote & Bock erschienenen Siebten Symphonie, bei der nicht weniger als 800 Korrekturen gegenüber der 1908 erschienenen Erstausgabe vorgenommen wurden. Damit war der Startschuss für eine kontinuierliche Arbeit an der Gesamtausgabe gegeben. In den folgenden vier Jahren erschienen nicht weniger als fünf weitere Bände: die Symphonien 4, 6 und 5, das Adagio der Zehnten Symphonie und das Lied von der Erde.

Die 1960er Jahre brachten auch eine grundlegende Generationenwende: der Tod Bruno Walters (1962), Alma Mahlers (1964) und Theodor W. Adornos (1969) bedeutete eine markante Zäsur, die allerdings dem fortgesetzten Ziel der IGMG, einer öffentlichen Breitenwirkung für Mahlers Schaffen, keinerlei Abbruch tat. Für die Gesamteinspielung der Symphonien Mahlers (1967) wurde Leonard Bernstein mit der Goldenen Mahler-Medaille ausgezeichnet. Auf wissenschaftlichem Gebiet wurde mit der 1969 erschienenen Studie Kurt Blaukopfs Gustav Mahler oder der Zeitgenosse der Zukunft bedeutendes Neuland betreten.

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Die 1970er Jahre: Gottfried von Einem als neuer Präsident und neue Räumlichkeiten

Das vermutlich einschneidendste Ereignis des folgenden Jahrzehnts war der Tod von Erwin Ratz (1973), der für die IGMG eine gravierende Krisensituation bedeutete. Dass diese dennoch rasch überwunden werden konnte, ist vor allem drei Persönlichkeiten zu verdanken: Karl Heinz Füssl als neuem Herausgeber der Gesamtausgabe, Kurt Blaukopf als Leiter des umfangreichen Archivs und der darauf basierenden wissenschaftlichen Arbeiten, und schließlich dem international renommierten Komponisten Gottfried von Einem als Präsidenten der IGMG, der diese Funktion über 18 Jahre lang innehatte.

Eine bedeutsame und höchst notwendige Veränderung der räumlichen Situation der IGMG erfolgte im Herbst 1975. Der Ankauf einer Wohnung am Wiedner Gürtel 6 im vierten Wiener Gemeindebezirk ermöglichte der IGMG eine adäquate Unterbringung ihrer umfangreichen Materialien. Zugleich bedeutete dieses Jahr eine Öffnung hin zu einer zunehmenden Internationalisierung der Aktivitäten. Hier sind vor allem die seit 1976 in deutscher und englischer Sprache erscheinenden Nachrichten zur Mahler-Forschung zu erwähnen, die von der Gesellschaft herausgegeben werden. Gegenwärtig liegen 75 Ausgaben dieser Fachzeitschrift vor. Darüber hinaus initiierte Kurt Blaukopf eine eigenständige Schriftenreihe (Bibliothek der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft), deren beiden ersten Bände Edward R. Reillys Monographie Gustav Mahler und Guido Adler (1978) und Eduard Reesers Briefedition Gustav Mahler und Holland (1980) waren. Nach einer langen Unterbrechung aufgrund mangelnder Finanzierung konnte die Buchreihe mit Andreas Michaleks Abhandlung „…schreiben sie Mahler keine dummen Briefe…“: Gustav Mahler und Rosa Papier (2013) fortgesetzt werden. Daneben erschien Blaukopfs Dokumentarbiografie Mahler, in der erstmals zahlreiche Briefdokumente sowie mit 365 Abbildungen die bis dahin umfänglichste Bilddokumentation veröffentlicht wurden.

Auch in finanzieller Hinsicht waren die 1970er Jahre ein erfreuliches Dezennium. Zum einen kamen die Finanzmittel des Wiener Gustav Mahler Denkmal Vereins für ein nicht realisiertes Denkmal der Gesellschaft zugute. Als besonders wichtige Förderer erwiesen sich zudem Leonard Bernstein und die Wiener Philharmoniker, die den Reingewinn aus Aufführungen der Achten Symphonie im Wiener Konzerthaus der IGMG überließen. All dies führte zu einer deutlich intensivierten Tätigkeit, bei der nicht zuletzt die zahlreichen Forschungsinitiativen der IGMG eine bedeutsame Rolle spielen. 1979 veranstaltete die IGMG in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Musik ein Internationales Gustav Mahler Kolloquium – die erste in Wien veranstaltete Mahler-Konferenz überhaupt. Nur wenige Monate später fand eine groß dimensionierte, von Rudolf Stephan kuratierte Gustav Mahler Ausstellung am Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut statt.

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Die 1980er Jahre: Die Rettung der Komponierhäuschen

Die zahlreichen wichtigen Impulse der 1970er Jahre setzten sich in den 1980er Jahren ungebrochen fort. 1980 lagen nach 20 Jahren bereits zwölf Bände der Kritischen Gesamtausgabe vor. Herta Blaukopf legte mit der erstmaligen Edition der Korrespondenz zwischen Mahler und Richard Strauss ein für die weiteren Forschungen bedeutungsvolles Quellenmaterial vor. Ein Pionierwerk bildete Herta Blaukopfs 1982 erschienene (und in einer Neuauflage 1996 um 30 Briefe erweiterte) revidierte Neuauflage vonGustav Mahler, Briefe, das wohl wichtigste Kompendium der reichen Korrespondenz Mahlers. Die bereits in der Frühzeit der IGMG vorgenommenen Ehrungen für bedeutende Künstlerinnen und Künstler, nun aber auch für wichtige Förderer der Mahlerforschung, wurde durch Verleihungen der Goldenen Mahler-Medaille an Christa Ludwig, Dietrich Fischer-Dieskau, Carlo Maria Giulini, die Wiener Philharmoniker, sowie an Alice und Franz Strauss für ihre wesentlichen Hilfestellungen für die Briefedition Mahler-Strauss dokumentiert.

Zunehmend in den Fokus der Aktivitäten der IGMG geriet die Sorge um die Mahler-Gedenkstätten, vor allem um die Komponierhäuschen in Steinbach am Attersee, Maiernigg am Wörthersee und Toblach, deren Pflege sich als äußerst kompliziert erwies. Erst nach langwierigen und zum Teil zähen Verhandlungen gelang es, diese drei wesentlichen Stätten von Mahlers kompositorischem Schaffen unter Denkmalschutz zu stellen und sie als Orte der Erinnerung und des Gedenkens an einen der bedeutendsten Komponisten der Zeit um 1900 wiederherzustellen. Im Oktober 1981 konnte zunächst eine Gedenkplakette an Mahlers Wiener Wohnung in der Auenbruggergasse 2 im dritten Bezirk angebracht werden. Am 4. Mai 1985 erfolgte die feierliche Eröffnung des Komponierhäuschens in Steinbach, in dem eine Dokumentation aus den Beständen der IGMG über Mahlers dortiges Wirken eingerichtet wurde. Bereits ein Jahr später, am 7. Juli 1986, konnte das Komponierhäuschen in Maiernigg eröffnet werden, 1992 schließlich jenes in Toblach, in dem Mahler das Lied von der Erde, die Neunte und die unvollendete Zehnte Symphonie komponierte. Die dort 1981 von einem Komitee erfolgte Gründung der jährlich stattfindenden Gustav Mahler Musikwochen bildete den Ausgangspunkt einer heute weltweit bekannten Initiative. Seit 1991 finden die Musikwochen im Kulturzentrum Grand Hotel Toblach statt und umfassen Orchester- und Kammerkonzerte, Ausstellungen und wissenschaftliche Veranstaltungen. 2021 wurde die Forschungsstelle Gustav Mahler (Gustav Mahler Research Centre) als Kooperationsprojekt zwischen der Stiftung Euregio-Kulturzentrum Gustav Mahler Toblach-Dolomiten und dem Institut für Musikwissenschaft der Universität Innsbruck unter der Leitung von Federico Celestini ins Leben gerufen.

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Die 1990er Jahre: Auf dem Weg zum digitalen Archiv

Die frühen 1990er Jahre waren für die IGMG durch zwei wesentliche Veränderungen bzw. Zäsuren geprägt. Gottfried von Einem, seit 1973 Präsident der IGMG, legte aus Altersgründen in der Generalversammlung 1991 sein Amt als Präsident der IGMG nieder. Zu seinem Nachfolger wurde der bisherige Vizepräsident und Generalsekretär der Wiener Symphoniker Rainer Bischof gewählt, der dieses Amt bis ins Jahr 2015 ausübte. Bereits ein Jahr später erfolgte mit dem unerwarteten Tod von Karlheinz Füssl 1992 eine weitere Zäsur. Ihm folgte Reinhold Kubik als neuer Leiter der Gesamtausgabe nach, wobei für dieses Jahrzehnt vor allem die dreisätzige Urfassung von Das klagende Lied (1997, revidiert 2011) und die Wunderhornlieder für Singstimme und Klavier (1993, neue Ausgabe 2008) sowie für Singstimme und Orchester (1998, neue Ausgabe 2010) hervorzuheben sind. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Amtsantritts Mahlers als Direktor der Wiener Hofoper fand 1997 eine von der IGMG und dem Theatermuseum kuratierte umfassende Ausstellung Die Ära Gustav Mahler statt.

In den Jahren 1994/95 begann in der IGMG die Phase der Digitalisierung. Nach und nach wurden die Bestände von Bibliothek und Archivs in elektronischer Form zugänglich gemacht und durch Frank Fanning wurde eine Webseite der Gesellschaft erstellt. Von 2001 bis 2021 erweiterte und modernisierte Fanning diese Webseite (https://gustav-mahler.org) fortgesetzt und wurde für seine Verdienste um die IGMG 2022 mit der Goldenen Mahler-Medaille ausgezeichnet.

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Die Jahre ab 2000: Neue Kritische Gesamtausgabe und neue wissenschaftliche Erkenntnisse

Die philologischen Standards für Kritische Gesamtausgaben haben sich seit Erscheinen des ersten Bandes der Siebten Symphonie 1960 wesentlich gewandelt. Ging es in der Frühzeit darum, rasch eine einigermaßen verlässliche Textgrundlage zu erstellen (mit in der Regel sehr knapp gehaltenen Revisionsberichten), so finden sich in den jüngeren Bänden deutlich genauere und umfangreichere Quellenvergleiche als Grundlage der Edition. Dies hat die Realisierung einer Neuen Kritischen Gesamtausgabe (NKA) notwendig gemacht, die sich von den früheren Bänden durch neu hergestellten Notensatz, die Herstellung neuer Aufführungsmaterialien sowie ausführliche Begleittexte unterscheidet. Bis zum Jahr 2010 sind die Zweite Symphonie, die Sechste Symphonie, die revidierten Ausgaben der Wunderhornlieder in den Fassungen mit Klavier (2008) und Orchester (2010) erschienen, gefolgt von der Siebten Symphonie (2012) und der erweiterten Ausgabe der Klavierfassung des Lied von der Erde (2012). 2012 legte Reinhold Kubik die Leitung nieder, seither leiten Renate Stark-Voit und Stephen Hefling die Neue Krische Gesamtausgabe. 2019 erhielt der von Stephen Hefling herausgegebene Band mit der Tondichtung in Symphonieform „Titan“ (eine frühe Fassung der Ersten Symphonie) den „Best Edition Award“. Ende 2021 wurde die Neuausgabe der Vierten Symphonie, herausgegeben von Renate Stark-Voit, abgeschlossen und seither bereits mehrfach aufgeführt. Auch dieser Band erhielt im April 2022 den „Best Edition Award“. Weitere Bände sind in Vorbereitung.

Die deutliche Fokussierung der Aktivitäten im Hinblick auf die Gedenkjahre 2010 (zu Mahlers 150. Geburtstag) und 2011 (zu Mahlers hundertstem Todestag) führte u. a. zu einer umfangreichen Ausstellung „leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener“ – Gustav Mahler und Wien im Österreichischen Theatermuseum. Auch in wissenschaftlicher Hinsicht wurden weitere neue Akzente gesetzt. Die beiden Internationalen Symposien Musikinstrumente und Musizierpraxis zur Zeit Gustav Mahlers (2007 und 2021 im Druck erschienen) eröffneten wesentliche neue Erkenntnisse bezüglich des Klangbildes von Mahlers Werken zu seiner Lebens- und Wirkungszeit.

Im Jahre 2015 beendete Rainer Bischof sein 24 Jahre währendes Wirken als Präsident der IGMG. Ihm folgte Christian Meyer nach. In seine Präsidentschaft fällt das Jubiläumsfest „60 Jahre IGMG“ am 30. Oktober 2015 im Gläsernen Saal des Musikvereins, das entscheidend durch das künstlerische Engagement Thomas Hampsons und die mitwirkenden Wiener Virtuosen geprägt war. Kammersänger Thomas Hampson, dem die IGMG entscheidende Förderungen und Impulse verdankt, war bis 2019 Vizepräsident der IGMG und ist seither Künstlerischer Berater des Vorstandes.

In der Generalversammlung vom 28. Juni 2019 wurde ein neuer Vorstand gewählt mit Peter Revers als Präsident und Barbara Boisits als Vizepräsidentin. Nach der Vorstandswahl 2023 übernahm Christian Utz das Präsidentenamt, Peter Revers jenes des Vizepräsidenten und Barbara Boisits jenes der Kassierin. Die weiteren Mitglieder des aktuellen Vorstands sind Thomas Glaser (Schriftführer), Morten Solvik, Meike Wilfing-Albrecht, Stephen Hefling, Renate Stark-Voit, Federico Celestini sowie Alexander Steinberger, Sekundgeiger und Vizevorstand der Wiener Philharmoniker. Wesentliche Initiativen der letzten Jahre umfassen die grundlegende Erneuerung der Webseite der IGMG und die Erstellung eines digitalen Verzeichnisses der Werke Gustav Mahlers (GMW) auf Grundlage der in den Digital Humanities entwickelten Methoden als Kooperationsprojekt der IGMG mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Innsbruck („Mahler Online“). Die Sicherung und Digitalisierung der Archivbestände der IGMG bildet einen weiteren Schwerpunkt der gegenwärtigen Aktivitäten. Daneben wurde die Bedeutung der Wiener Philharmoniker im Kontext der Leitungsorgane der IGMG in den letzten Jahren deutlich verstärkt. Neben Alexander Steinberger konnte die IGMG den Cellisten Bernhard Hedenborg als Kassier und den pensionierten Solocellisten Franz Bartolomey als Beiratsmitglied gewinnen. Bereits zuvor waren Clemens Hellsberg und Werner Resel viele Jahre als Rechnungsprüfer tätig gewesen.

Mit der Gründung des Wissenschaftszentrums Gustav Mahler an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien wurde – neben der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit dem Toblacher Mahler Research Centre – eine weitere wichtige Kooperation inauguriert und im Juni 2022 mit einem groß dimensionierten Internationalen Symposium Voices of History – History of Voices eingeweiht, wobei besonders der Bereich Interpretationsgeschichte fokussiert wurde. Auch in diesem Rahmen wurde eine enge Kooperation mit den Wiener Philharmonikern eingangen mit der Aufführung der Kammerorchesterfassung des ersten Satzes von Mahlers Vierter Symphonie in der Fassung von Erwin Stein durch die Akademist*innen der Wiener Philharmoniker unter Leitung des ehemaligen Stimmführers der Primgeigen Josef Hell.

Für die folgenden Jahre steht die Internationale Gustav Mahler Gesellschaft vor großen Herausforderungen, sind doch neben den technisch anspruchsvollen und zeitaufwändigen Forschungs- und Editionsprojekten die Instandhaltung der Räumlichkeiten und eine Erneuerung der technischen Ausstattung des Archivs von großer Dringlichkeit. Chronische Budgetknappheit verzögert allerdings eine Umsetzung vieler dieser momentan in Arbeit befindlichen Vorhaben. Die mittlerweile nahezu ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanzierte IGMG (bei sehr knappen jährlichen Subventionen der Stadt Wien) erfordert weiter großes Engagement von Vorstand, Beirat, Förderern und Mitgliedern.

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Literatur

  • Erich Wolfgang Partsch, „Zur Geschichte der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft“, in: ders. (Hrsg.), Gustav Mahler: Werk und Wirken. Vierzig Jahre Internationale Gustav Mahler Gesellschaft, Wien 1996, 11–33.
  • Reinhold Kubik, „The History of the International Gustav Mahler Society in Vienna and the Complete Critical Edition“, in: Jeremy Barham (Hrsg.), The Cambridge Companion to Mahler, Cambridge 2007, 217–225.