Maßstabgerechte Interpretationen: Hans Rosbaud dirigiert Gustav Mahler

Michael Schwalb (03/2022)

zuletzt aktualisiert 26/04/2023

Hans Rosbaud (1895–1962) dirigiert Mahler

Sinfonien 1, 4, 6, 7, 9:
Südwestfunk-Orchester Baden-Baden 


Sinfonie 5, Das Lied von der Erde (beide live):
Grace Hoffmann (Sop.), Ernst Haefliger (Ten.)                             
Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester


Historic Recording / 8 CD
SWR Classic SWR19099CD
EAN 747313909988
LC 10622 Vertrieb Naxos

 

In welchem Ausmaß Mahlers gigantische Symphonien bereits zum Alltag geworden sind, vermittelt ein Blick in die Kritiken dieser außergewöhnlichen Veröffentlichung: Da wundert sich mancher Rezensent, dass hier keine Gesamteinspielung von Mahlers symphonischem Œuvre vorliegt, da die chorbesetzten Werke – die Zweite, Dritte und Achte Symphonie – in dieser CD-Box nicht enthalten sind. Natürlich ist dies zu bedauern, jedoch muss man angesichts der Entstehungszeit dieser Mono-Aufnahmen (zwischen 1951 und 1961) zunächst dem Pioniergeist der Orchesterverantwortlichen von SWR (Südwestrundfunk, bzw. damals noch – als Südwestfunk – SWF) und WDR (Westdeutscher Rundfunk) in Baden-Baden und Köln Respekt zollen. Schließlich war Mahler für die Musiker wie für das deutsche Publikum aufgrund seiner zwangsweisen zwölfjährigen Abstinenz terra incognita. Die Programmierung seiner großbesetzten Symphonien bedeutete also alles andere als einen musikalischen und dispositorischen Normalfall, und so können wir uns glücklich schätzen, dass alle Instrumentalsinfonien, die einzeln und verstreut bereits veröffentlicht waren, hier gebündelt und tontechnisch exzellent überarbeitet vorliegen.

Rosbauds Aufnahmen entstanden also vor dem in den 1960ern einsetzenden Mahler-Boom, haben diesen jedoch durch die radiophone Verbreitung durchaus mit vorbereitet. Und nicht nur Leonard Bernstein und Rafael Kubelik als Dirigenten der ersten Gesamtaufnahmen, nicht nur die exilierten und nach dem Krieg zurückkehrenden Mahler-Apologeten der ersten Generation wie Bruno Walter und Otto Klemperer haben Mahler ins Nachkriegseuropa repatriiert. Hans Rosbaud, im inneren Exil in Deutschland geblieben und gleich nach dem Krieg von den amerikanischen Besatzungsbehörden mit der Leitung der Münchner Philharmoniker betraut, führte dort bereits 1946 Mahlers Zweite und Dritte Symphonie auf und schloss so an die Tradition Münchens als Mahler-Stadt an, wo Gustav Mahler selber die Uraufführungen der Vierten und der Achten Symphonie dirigiert und Bruno Walter die posthume Uraufführung der Neunten Symphonie geleitet hatte.

Der nach Mahlers hundertstem Geburtstag geradezu kultisch anwachsende Ruhm hat heute jedoch auch problematische Seiten. Die ungeheuer gewachsene instrumentaltechnische Perfektion und orchestrale Brillanz heutiger Klangkörper hat Mahlers Symphonien viel von dem ihnen eingeschriebenen ‚utopischen‘ Charakter genommen. Die Realisierung der von Mahler einkalkulierten, mittels extremer instrumentaler Beanspruchung sogar einkomponierten Unvollkommenheit bereitet den Orchestern unserer Tage kaum noch Probleme, weshalb die Aufführungen durch Spitzenorchester – eigentlich wider den musikalischen Charakter – allzu glatt und ohne das Gefühl einer gemeinsamen Anstrengung, einer Verschränkung des musikalisch-orchestralen Systems, einhergeht. Und war der Leistungsnachweis eines ambitionierten GMD früher eine Aufführung aller Symphonien Beethovens, so ist heute ein Mahler-Zyklus Ausweis dirigentischer und orchestraler Souveränität. Da passt es ins Bild, dass eine distinguierte und ambitionierte Auszeichnung für Mahler-Aufnahmen, das „Toblacher Komponierhäuschen“, seit einigen Jahren nicht mehr vergeben wird, da es in der gegenwärtig kaum überschaubaren Masse guter Aufnahmen an wirklich herausragenden und charismatischen Einspielungen (und Dirigenten!) mangelt. Rosbaud allerdings wäre mit der vorliegenden Edition ein sicherer Kandidat für diese Auszeichnung gewesen!

Hans Rosbauds Tod (1962 im Alter von nur 67 Jahren) hat verhindert, dass er Mahlers Wort, seine Zeit werde kommen, noch hat in Erfüllung gehen sehen. Dabei ist Rosbauds Rolle, Mahler in der jungen Bundesrepublik im Repertoire zu verankern, noch viel zu wenig gewürdigt. Für ihn und seine Rundfunkmusiker waren Mahlers Partituren durchaus noch orchestrales Trainingsmaterial, da Mahlers Anforderungen an den Einzelnen wie die musikalische Gemeinschaft noch keineswegs selbstverständlich waren. In den 1950er Jahren bildete Mahler im Konzertsaal durchaus noch einen Bestandteil der Moderne; heute wird er höchstens noch als deren Wegbereiter angesehen.

Im Aufnahmestudio des SWR, das später nach Hans Rosbaud benannt wurde, fanden nicht nur die Mahler-Aufnahmen statt, sondern dort probte und produzierte Rosbaud als Chef des SWR-Sinfonieorchesters auch epochale Werke der tagesaktuellen Musikproduktion wie Pierre Boulez’ Le marteau sans maître. Heute ist das Orchester mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart fusioniert und dorthin verzogen, das Hans-Rosbaud-Studio ist verwaist und wird wohl – da das Gelände an einen Investor verkauft wurde – 2023 abgerissen.

Uns bleibt die Musik. Und es ist, das sei gleich gesagt, erstaunlich, ohrenputzend, herzbewegend, Mahler einmal wieder als „Historic Recording“ zu erleben, in Rundfunkaufnahmen, die nicht zur Publikation außerhalb einer Radiosendung vorgesehen waren. Zwar sind es Mono-Aufnahmen (die deutschen Rundfunkanstalten haben sich erstaunlicher spät erst zur Einführung der Stereophonie entschlossen); aber sie entstanden in einer Epoche, in der etwa Bruno Walter für die Columbia seine amerikanischen Mahler-Aufnahmen einspielte, die bewusst einerseits als dirigentisches Vermächtnis, andererseits aber auch als Innovation für das gerade entwickelte Medium der Langspielplatte konzipiert waren. Man muss sich klarmachen, dass Rosbaud auf der einen Seite nicht – wie Walter und Klemperer – eine unmittelbare Handreichung durch Mahler erfahren hatte, ihm andererseits aber auch noch kaum Aufnahmen zur Verfügung standen, an denen er sich hätte orientieren können. Insofern ist jeder interpretatorische Ansatz ungefilterte Partiturexegese.

Die Neunte Symphonie ist zwar nicht früheste hier dokumentierte Aufnahme, aber 1954 ist es Rosbauds erste Studioaufnahme einer Mahler-Symphonie in Baden-Baden. Der Kopfsatz hält gleich eine irritierende Überraschung bereit: Das Andante comodo ist keineswegs ‚gemächlich gehend‘, gar nicht behaglich, sondern ähnelt einem Geschwindmarsch und ist mit 23 Minuten eine der raschesten Einspielungen der Plattengeschichte. (Noch zwei Minuten schneller ist – bei völlig anderer, extrovertierterer Anlage – die Lesart Hermann Scherchens in seiner Liveaufnahme von 1950 mit den Wiener Philharmonikern.) Umso zwingender wirkt aber der Beginn der vereinzelt und verloren wabernden Motive, die sich langsam zu einem großen Trauergesang formieren. Dessen Auftakte (zweite Violine zu Takt 7, erste Violine zu Ziffer 2) kostet Rosbaud aus, spürt hier bereits den Bemerkungen nach (O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!), die Mahler an späterer Stelle (nach Takt 267) im Partiturentwurf notiert hatte, die aber für den gesamten Satz programmatisch sind. Im diesem Idiom der Wiener Klassik macht der 1895 in Graz geborene Rosbaud deutlich, wie sehr Mahler, der Visionär der Moderne, sich aller musikalischen Traditionen bewusst ist – ein Romantiker, der die Seeleneinsamkeit sucht und dennoch von Weltsehnsucht gequält ist.

Geradezu körperlich ergreifend spürt Rosbaud Mahlers Modulationen nach (Takt 54, 64) – ich habe auch bei wiederholtem Hören bei diesen Harmoniewechseln ein flaues Gefühl im Magen, als säße man als Kind auf einer Schaukel, ehe diese vom Scheitelpunkt hinabstürzt. Dies wirkt in der ‚Beiläufigkeit‘ von Rosbauds raschem Tempo viel eindrücklicher, als wenn solche Effekte (wie etwa bei Leonard Bernstein) bewusst angesteuert und ausgewalzt würden.

Mitnichten aber ist Rosbauds Tempo rigide, sondern erlaubt sich agogische Freiheiten, die allerdings bezwingend Mahlers rhetorischem Sprachfluss angepasst sind. In den Scharniertakten, die das zweite Thema (in Takt 29) vorbereiteten, zieht Rosbaud das Tempo nochmals merklich an, was den obsessiven Charakter der langen Violinphrase betont. Am Ende des Satzes ist der gegenläufige Zerfallsprozess ebenso zwingend gestaltet, eben weil nichts künstlich inszeniert wird. Das Misterioso (Takt 376, wieder einer dieser in der Magengrube spürbaren Momente) wird nicht zelebriert, sondern Rosbaud lässt diese Passage als beunruhigende Vereinzelung, als beklemmendes Auseinanderfallen spielen: Wie umherirrend musizieren die Instrumente aneinander vorbei, ohne klare motivische Struktur oder tonale Ankerpunkte. Kaum versöhnlich dann der Schluss mit dem paarweise von Klarinetten und Hörnern intonierten Anfangsmotiv der fallenden Sekund (Leb wol! in Mahlers Partiturentwurf).

Dass Rosbaud Mahlers Vorschriften nicht als unveränderliche Wahrheit, sondern als vom Dirigenten anzupassendes Material ansieht, zeigt sich in einem Detail des zweiten Satzes: Ab Takt 168 erklingt dort der ursprünglich Im Tempo eines gemächlichen Ländlers musizierte Beginn nun in einem raschen Walzertempo. Da die Hörner in diesem Tempo mit der Artikulation der vier ff-Sechzehnteln etwas überfordert sind, lässt Rosbaud das Motiv von der Trompete mitschmettern – ein sinnvoller Effekt, den der allzeit verbesserungsbereite Mahler wahrscheinlich übernommen hätte. (Auch in anderen Symphonien hat Rosbaud leichte Retuschen angebracht, um unterbelichtete Gegenmelodien zu verstärken oder durch eine zusätzliche Instrumentalfarbe aufzuwerten.)

Die nachfolgende Rondo – Burleske ist auch deshalb so bezwingend, weil Rosbaud bei diesem zwischen Hölle und Himmel changierenden Welttheater nicht grimassierend auf die Tube drückt (dies eine Spezialität des Motorikers Simon Rattle), sondern die Musik mit all ihren Gegensätzen aus sich selbst heraus wirken lässt, ohne die Darstellung durch zusätzliche Subjektivität aufzuladen. Man genießt ein virtuos aufspielendes Orchester: prächtiges Blech, agile Streicher, einzig im Holz die eine oder andere Schwachstelle (Oboe). In dieser komplexen Musik wird deutlich, welche maßstabsetzend epochale Unternehmung die Nachkriegsgründung der deutschen Rundfunkklangkörper bedeutete: Mahlers Symphonien waren auf Schallplatten noch kaum erfahrbar, überhaupt das Radio zur Verbreitung von Musik und Kultur überlebenswichtig. Und außerhalb der Rundfunklandschaft war kaum ein anderer Klangkörper, auch nicht das Berliner Philharmonische Orchester in seinem damals durchaus noch wenig gesicherten Status, zu Aufführungen in dieser Qualität in der Lage. Dies hat sich, man mag es bedauern, inzwischen fundamental geändert. Die Auflösung von Rosbauds Orchester (bzw. dessen 1996 erfolgte Fusion mit den Stuttgarter Rundfunkmusikern) ist nur eine der beklagenswerten  Konsequenzen.

Mustergültig ist auch die technische Abbildung von Mahlers instrumentaler Dramaturgie in dieser Neunten Symphonie. Die monaurale Aufnahme bildet ein prachtvolles Panorama auch der detailliertesten Partiturvorschrift, und der Hörer hat das Gefühl, mitten im Orchester zu sitzen. Die digitale Aufbereitung unterstützt die ambitionierte Klarheit von Rosbauds musikalischer Darstellung.

Livemitschnitt aus Köln

Rosbauds Aufnahmegeschichte mit Mahler begann jedoch einige Jahre früher, allerdings mit einem Livemitschnitt: Von 1951 datiert die Konzertaufnahme aus dem nur zwei Wochen zuvor eingeweihten Großen Sendesaal des Kölner Funkhauses; neben Mahles 1904 in Köln uraufgeführter Fünfter Symphonie standen dort vor der Pause ein Vivaldi-Concerto sowie Alban Bergs Lulu-Suite auf dem Programm.

In vielerlei Hinsicht ist diese Aufnahme ein Gegenstück zur Studioproduktion der Neunten Symphonie. Die Kölner Aufnahmetechnik bildet das komplexe Geschehen längst nicht so filigran ab wie die Kollegen aus Baden-Baden. Außerdem sind in den schnellen Sätzen koordinatorische Unschärfen der Livesituation geschuldet. Dieses Konzertdokument begeistert aber durch seinen musikantischen Schwung und die Durcharbeitung der Phrasierung, etwa der ersten Violinen bei den idiomatischen Walzerpassagen im Scherzo (Ziffer 6), wo im raschen Tempo alle Schweller, Schleifer und Akzente bestechend herausgearbeitet sind.

Erstaunlich ist der Beginn dieser Fünften, bei dem die (übrigens herausragend gute) Trompete die Triolenachtel der Auftakte äußerst rhythmisch ausführt und nicht, wie Mahler vorschreibt, etwas flüchtig auf den nächsten Takt hin spielt. Und bemerkenswert ist das mit unter neun Minuten Spieldauer (ganz in Mahlers Sinne) rasch genommene Adagietto; zwar kostet Rosbaud die Kantilene seelenvoll aus, hütet sich jedoch davor, die (seinerzeit ja noch nicht durch außermusikalische Konnotationen befrachtete) Musik subjektiv und über Gebühr schwelgerisch aufzuladen. Eben darum wirkt diese Darstellung so eindringlich, weil in Rosbauds ausschließlich am Werk orientierter ‚nüchterner‘ Skala des Empfindens jedes noch so kleine Erblühen (neben seelenvoll schreibt Mahler mit Wärme oder mit innigster Empfindung) wie eine gewaltige Eruption wirkt. Das kleinbesetzte Adagietto ist ja paradoxerweise mit elf Tempoanweisungen in 103 Takten eine von Mahlers unruhigsten Kompositionen, und dieser beständige Wechsel von Drängen und Zurückhalten wirkt umso bezwingender, als Rosbaud keinerlei maßstabverfälschende Subjektivität zulässt, sondern Mahlers innigster Seelenmusik eine atmende Klarheit verleiht.

Diesen Eindruck bestätigt die Baden-Badener Produktion der Sechsten Symphonie, als eine der letzten Aufnahmen Rosbauds im April 1961 entstanden. Es ist vielleicht bezeichnend, dass sich die Mahler-Dirigenten der ersten und zweiten Generation gerade mit dieser Tragischen Symphonie und ihren finalen weltzermalmenden Hammerschlägen sehr schwer getan haben; Bruno Walter etwa hat diese Sechste nie dirigiert (wobei er seine Abneigung vorderhand am allzu platten ‚Alma‘-Thema im Kopfsatz festmachte). Im zeitlichen Abstand zu den Weltkriegs-Katastrophen Mitteleuropas im 20. Jahrhundert schien unser Zugang zu dieser dystopischen Weltsicht etwas weniger belastet; die jüngsten Ereignisse zeigen indes, dass Mahlers seismographische Musik noch keineswegs obsolet ist.

In unserer Epoche demonstrativer dirigentischer Entäußerung war die Sechste gar zum Showpiece exhibitionistischer Pultvirtuosen geworden. Doch nichts davon ist bei Rosbaud zu spüren – im Gegenteil: Ihm gelingt es ohne dirigentische Selbstverleugnung, diese Riesensymphonie in die Tradition der Wiener Klassik zu stellen, indem er den dort entwickelten Formenplan erkennen lässt, aber nicht über Gebühr strapaziert. Im in jeder Hinsicht überbordenden Kopfsatz arbeitet Rosbaud die Sonatenhauptsatzform deutlich heraus; im Scherzo (als zweitem Satz – seinerzeit noch kein Diskussionsthema!) entpuppt sich der beherrschende Grundcharakter weniger im Wuchtig stampfenden Beginn als vielmehr im Trio (Altväterisch), dessen rhythmische, harmonische und instrumentale Rückungen bezwingend ausmusiziert werden; das Andante moderato ist dann ein fließend idyllischer Ruhepunkt. Auch im Finale lässt sich Rosbaud nicht vom Furor der Musik überwältigen und stellt das weltzertrümmernde Geschehen (schon durch das maßvolle Tempo) eher als Holbein’schen Totentanz denn als katastrophische Gegenwart des 20. Jahrhunderts dar (Ziffer 111; Fugato ab 134). Dabei gelingen Rosbaud insbesondere mit den Herdenglocken-Passagen Momente idyllischer Weltentrücktheit und Selbstfindung – allerdings weniger durch die Herdenglocken selber, als vielmehr durch den berückend abgestuften Zusammenklang von in der Hochgebirgssonne gleißendem Geigentremolo, himmlischer Celesta und den Choralanklängen der Bläser (1. Satz ab Ziffer 21). Überhaupt ist die Aufnahme voller sensibel ausgespielter Details: Auf engstem Raum wird die winzige gestische Verzögerung der Violinen nach vorangehender geringfügiger Beschleunigung idiomatisch überzeugend herausgearbeitet (erster Satz, Takte 159–161). Zu Rosbauds musikalischen Prinzipien, Mahler nicht in klanglicher Überwältigungsstrategie darzustellen, sondern innerhalb eines klaren symphonischen Maßstabs abzubilden, zählt übrigens auch der Verzicht auf Wiederholungen in der 1. und 6. Symphonie.

Romantische Entäußerung im klassischen Gewand

Am wenigsten überzeugt mich Rosbauds Lesart der Vierten, der klassischsten, inhaltlich, formal und besetzungstechnisch überschaubarsten von Mahlers Symphonien. Erstaunlicherweise ist diese Interpretation der Vierten, bei der die ‚Versuchung‘ zur Überschreitung klassischer Maßstäbe am wenigsten virulent ist, die unentschiedenste in dieser Box. Einfache rhythmische Patterns (Triangel, erster Satz nach Ziffer 16) sind ungenau; der grotesk grimassierende zweite Satz bleibt eine harmlose Maskerade; im dritten Satz (Ruhevoll) können sich die Streicher erst ab dem fünften Takt auf ein gemeinsames Tempo einigen. Hinzu kommt die aufnahmetechnisch mulmige Darstellung von Mahlers klarstem und transparentestem Partiturbild. Allein das sehr behaglich fließende Finale ist gelungen, insbesondere aufgrund der wirklich in himmlischen Freuden schwebenden Stimme von Eva Maria Rogner. Ihr Sopran hat zwar hörbar Drang und Fähigkeit zur Koloratur, aber die wunderbar klare Stimme verströmt sich in lyrischer und zu Herzen gehender Kindlichkeit. Eva Maria Rogner vermittelt keine Illusion, kein ‚als ob‘, sondern eine herzergreifend wahrhaftigen Innenwelt.

Rundum bezwingend ist die Produktion der Siebten Symphonie. Sie ist die in der dirigentischen Koordination schwierigste unter Mahlers Symphonien, und Rosbauds Einspielung demonstriert hier wiederum alle Tugenden seiner außergewöhnlichen Partnerschaft mit dem Rundfunk in Baden-Baden: Ein prächtig aufspielendes Orchester und einen Leiter, der Mahlers überbordende Orchesterdisposition und die exzessiven Spielanweisungen nicht als Lizenz zur subjektiven Aus- und Überdehnung dieser Koordinaten versteht. Rosbaud erlaubt sich nur kleine Freiheiten, indem er eine Intensitätssteigerung manchmal etwas früher ansetzt als in der Partitur bezeichnet und so Mahlers Kulminationspunkte unterstreicht. Ansonsten kenne ich aber keine Interpretation, die derart radikal allein dem Komponisten und dessen in der Partitur festgehaltenen ‚Klangregie‘ vertraut. Das gilt nicht nur für die riesenhaft verschachtelten Außensätze, sondern besonders für die beiden Nachtmusiken: In der ersten entfaltet Rosbaud ein Wunder an sorgsamer Abschattierung, wohingegen die zweite Nachtmusik beinahe als musikalisch-pantomimische Commedia dell'arte agiert.

Ein Blick noch auf die Erste Symphonie und Das Lied von der Erde. Beide zählen nicht zu den hochkomplexen Werken Mahlers, zumindest was die Größe sowie die Differenziertheit der Orchesterbeanspruchung angeht.

Mir scheint Mahlers Erste, auch wenn sie 1961 im Studio aufgenommen ist, das Ergebnis eines Durchlaufs; jedenfalls sind auch deutliche Fehler nicht korrigiert (falscher Celloeinsatz im dritten Satz bei Ziffer 7; Einbruch einer der beiden hohen Unisono-Trompeten im Finale sieben Takte nach Ziffer 58). Erstaunlicherweise ist dieses Finale (Stürmisch bewegt), der vertrackteste  und längste der vier Sätze, bei Rosbaud eindeutig der am differenziertesten ausgearbeitete. Es scheint, als liefe Rosbaud bei besonderen Herausforderungen zu höchster Form auf, als sei es seine besondere Begabung gewesen, diffizile und großformatige Musik durchhörbar und begreifbar zu machen. Eher offensichtliche und ‚selbsterklärende‘ Sätze scheinen Rosbauds Fähigkeiten weniger entflammt zu haben.

Einen besonders schönen Livemitschnitt bildet die Kölner Aufnahme von Das Lied von der Erde (1955). Die Leistung des Orchesters, angeführt vom legendären Konzertmeister Theo Giesen, ist untadelig; Giesen glänzt auch mit seinen Soli, am bestechendsten die den Trunkenen im Frühling umschmeichelnde Passage, tonschön zart hervortretend. Die Mezzosopranistin Grace Hoffmann ist zuverlässig, kann aber nicht ganz an die auratischen Vorbilder anknüpfen. Ein Ereignis ist der Tenor Ernst Haefliger, der seine wunderbar geführte lyrische Stimme heldisch aufzustemmen vermag und mit seinen tonschönen deklamatorischen Fähigkeiten besticht (‚Affen‘-Passage bei Ziffer 43 in Das Trinklied vom Jammer der Erde). Aber auch hier gilt Rosbauds Maxime, die vorhandene Dramatik partiturgerecht und maßstäblich umzusetzen und keinerlei falsches Pathos aufzudrücken. Dies erhebt ihn zu einem wahrhaft aufgeklärten und modernen Dirigenten.

Vor, bei und nach dem Hören der CDs in dieser Box ist die Lektüre des Beihefts ein ausgesprochener Genuss! Christoph Schlüren entfaltet auf den sieben Seiten des deutschen Textes (im Booklet ist ebenfalls eine englische Fassung) kompetent und äußerst fasslich eine essayistische Einordnung von Hans Rosbaud in seiner Zeit und seiner Kunst, wie es besser kaum vorstellbar ist – beispielhaft. Wären doch nur alle CD-Begleithefte derart sachkundig und zielgerichtet auf die erklingende Musik hingeschrieben!

Diese Box ist also schlicht ein Ereignis. Hans Rosbaud zeigt sich in diesen faszinierenden Aufnahmen als treuer Sachwalter Mahlers, der eine sachliche, dabei keineswegs kühle Lesart anbietet. Im Gegenteil: Rosbaud vertraut Mahlers musikalischer Wirkmacht, indem er die überbordenden Details der Partituren philologisch korrekt herausarbeitet. Insgesamt besticht Rosbauds Blick auf Mahler durch die Unbelastetheit der Sichtweise und Frische der Darstellung. Bindet etwa Bruno Walter, selber ganz in der musikalischen Welt des 19. Jahrhunderts verhaftet, Mahler rückwärts an und macht dessen im 19. Jahrhundert liegende Wurzeln erfahrbar, so holt Rosbaud Mahlers Symphonien in die Offenheit des 20. Jahrhunderts. Rosbaud ist einerseits biographisch noch nahe bei Mahler, der im Zeitraum der Aufnahmen erst 40 bis 50 Jahre tot war. Außerdem ist Rosbauds dirigentische Herangehensweise in den Jahren des kulturellen Wiederaufbaus spürbar unbelastet von einengenden Vorbildern, einfach weil diese in jenen Jahren noch kaum zur Verfügung standen. Drittens, und vielleicht wichtigstens, ist Rosbauds musikalischer Standpunkt: Er betrachtet Mahler mit der Erfahrung und dem Horizont eines Dirigenten, der in der k. und k.-Vergangenheit aufwuchs, die musikalische Tradition verinnerlicht hatte, dabei aber ein Kontaktmann und Exponent der Wiener Moderne war (seine Interpretation von Schönbergs Variationen op. 31 ist die vielleicht luzideste), der sich absolut auf der Höher der aktuellen Musikproduktion bewegte. Seine Präsenz in Donaueschingen, dem Labor der bundesdeutschen Moderne, ist legendär, und beispielhaft etwa der dortige Einsatz für Pierre Boulez; mehrere von Boulez’ Orchesterwerken brachte Rosbaud dort und in Baden-Baden zur Uraufführung.

A propos Boulez: Dieser erklärte, wie sehr ihn, den Ikonoklasten und Denkmalstürzer, Rosbauds Mahler-Aufnahmen mit der Tradition versöhnt, ihm diese gar erst erschlossen hätten. In Baden-Baden habe ihm Rosbaud 1954 seine (im Januar des Jahres produzierte) Aufnahme von Mahlers Neunter Symphonie zu hören gegeben, die ihn aufs Äußerste beeindruckt und ihm die Ohren für Mahler geöffnet habe. In der Folge entwickelte Boulez sich zu einem eminenten Dirigenten, wobei Mahlers Symphonien einen Schwerpunkt seines Repertoires bildeten.

Übrigens fand Boulez’ erstes international wahrgenommenes Orchesterdirigat in Donaueschingen statt, als er 1959 die Uraufführung seines Tombeau leitete – als Einspringer für den erkrankten Hans Rosbaud. Und im selben Jahr nahm Pierre Boulez seinen Wohnsitz in Baden-Baden, das ihm zur musikalischen Heimat wurde. Doch das ist eine andere Geschichte.

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