Gustav Mahlers Symphonien in neuer Perspektive
Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmonie
Mahler · Scartazzini: Complete Symphonies Vol. 1 · odradek-records.com
Andrea Lorenzo Scartazzini Incantesimo (2020) for soprano and orchestra Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 4 Andrea Lorenzo Scartazzini Einklang (2021) Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 5 | Lina Johnson, Sopran Jenaer Philharmonie Simon Gaudenz, Leitung Odradek Records, ODRCD 440 Aufnahmen: 30.4.2022 (Sinfonie Nr. 4), 20.5.2022 (Sinfonie Nr. 5) Veröffentlichung: 2022 |
Mahler · Scartazzini: Complete Symphonies Vol. 2 · odradek-records.com
Andrea Lorenzo Scartazzini Torso for orchestra (2018) Epitaph for choir ad lib. and orchestra (2019) Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 Andrea Lorenzo Scartazzini Spiriti for orchestra (2019) Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 3 | Jana Baumeister, Sopran Evelyn Krahe, Alt Philharmonischer Chor Jena Jenaer Madrigalkreis und Männerstimmen des Knabenchores der Jenaer Philharmonie Berit Walther, Choreinstudierung Ida Aldrian, Mezzosopran Knabenchor der Jenaer Philharmonie Frauenstimmen des Philharmonischen Chores Jena Max Rowek und Nikolaas Schmeer, Choreinstudierung Jenaer Philharmonie Simon Gaudenz, Leitung Odradek Records, ODRCD 443 Aufnahmen: 26.5.2019 (Sinfonie Nr. 2), 8.11.2019 (Sinfonie Nr. 3) Veröffentlichung: 24.11.2023 |
Mahler · Scartazzini: Complete Symphonies Vol. 3 · odradek-records.com
Andrea Lorenzo Scartazzini Omen for orchestra (2023) Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 Andrea Lorenzo Scartazzini Omen – Orkus for orchestra (2023) Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 7 | Jenaer Philharmonie Simon Gaudenz, Leitung Odradek Records, ODRCD 450 Aufnahmen: 24.3.2023 (Sinfonie Nr. 6), 13.5.2023 (Sinfonie Nr. 7) Veröffentlichung: 1.3.2024 |
Die seit 2018 unternommene Gesamtaufnahme der Jenaer Philharmonie von Gustav Mahlers Sinfonien unter dem Dirigat von Simon Gaudenz, von der zurzeit drei CD-Sets mit den Sinfonien 2 bis 7 vorliegen, sticht durch die Kombination von Mahlers Musik und der eigens für diesen Zyklus entstandenen kurzen Werke des schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini hervor. Diese neuen Kompositionen entstanden bislang über einen Zeitraum von sieben Jahren und leiten je eine der Sinfonien Mahlers ein. Scartazzini setzt seine Werke mit Mahlers Sinfonien in Beziehung, jedoch nicht durch direkte Zitate. Er betrachtet vielmehr eine Sinfonie wie ein museales Exponat, dem man sich nach Belieben nähern und von dem man sich wieder entfernen kann. So kann jede neue Komposition ihre eigene symbiotische Beziehung zur jeweiligen Mahler’schen Sinfonie eingehen.
Immer führen Scartazzinis Werke in den Kopfsatz der folgenden Sinfonie. Dieser ist entweder durch ein kurzes Innehalten getrennt, schließt attacca an Scartazzinis Werk an oder ist sogar für kurze Zeit mit der neuen Komposition verschmolzen. Zwei dieser Werke sind als Torso (2018) und Epitaph (2019) betitelt. Sie stehen vor der Zweiten Sinfonie. Scartazzini antizipiert am Beginn von Torso das von Mahler verwendete Fernorchester. Nach ungefähr zwei Minuten wird die Musik vom Orchester übernommen und steuert in einem langsamen Auf und Ab auf einen Höhepunkt zu. Dieser markiert die Grenze der beiden attacca ineinander übergehenden Stücke Scartazzinis. In Epitaph wird der vorangehende Aufbauprozess umgedreht, mündet aber nicht, wie man vermuten könnte, in ein erneutes Auftreten des Fernorchesters, sondern in ein längeres Cello-Solo. Als eine Art Coda setzt, begleitet von hohen Streicherklängen, plötzlich der Chor mit drei Zeilen aus Rainer Maria Rilkes Das Buch von der Armut und vom Tode (1903) ein. Der Chorklang dient als weiteres Bindeglied zur folgenden Sinfonie, die nach dem Ausklingen von Epitaph beginnt.
Eine ähnliche Überleitung zu Mahler findet zwischen Scartazzinis Omen – Orkus (2023) und dem Kopfsatz der Siebten Sinfonie statt. Wie der Titel vermuten lässt, handelt es sich hier abermals um zwei miteinander verbundene Werke Scartazzinis. Omen nimmt hierbei eine doppelte Rolle ein, da es ebenfalls die Einleitung zur Sechsten Sinfonie darstellt. Der sich um einen C-Dur-Akkord ausbreitende „idyllische“ Klangteppich am Anfang der Komposition ist somit zweideutig. Mich erinnert die Stimmung dieses Anfangs in beiden Fällen an die Passagen mit den Herdenglocken, welche ja (nur) in diesen beiden Sinfonien vorkommen. Durch einen Tamtamschlag ändert sich das musikalische Geschehen drastisch hin zu einer orchestralen Steigerung. Im letzten Aufbäumen folgt hier attacca entweder der Kopfsatz der Sechsten Sinfonie oder, im Falle einer Einleitung zur Siebten, das Werk Orkus. Dieses verarbeitet noch einmal die aufbrausenden Passagen aus Omen bevor erneut ein Tamtamschlag den Stimmungswechsel zurück in den „idyllischen“ Klangteppich ankündigt. Dieser Abschnitt ist jedoch um einiges länger und variantenreicher als sein Pendant – als würden sich hier noch zusätzlich zur Stimmung der Herdenglocken die beiden Nachtmusiken ankündigen.
Beim Übergang zu Mahlers Vierter Sinfonie klingt das vorangegangene Stück Incantesimo (2020) zwar aus, jedoch setzt der Kopfsatz noch während dieses Ausklingens ein. Thematisch spannt das als Orchesterlied nach Joseph von Eichendorffs Abendständchen konzipierte Stück Scartazzinis einen Bogen zum letzten Satz der Sinfonie. Dies geschieht hier auf ähnliche Weise wie am Ende von Epitaph (Vorwegnahme des Chores) durch die anfängliche Reduzierung auf Sopran und Harfe. Nach allmählicher Steigerung durch das Orchester wird die Sopranstimme durch die Solo-Violine abgelöst (was entfernt an die Solo-Violine des zweiten Satzes von Mahlers Sinfonie erinnert), woraufhin sich das musikalische Geschehen erneut beruhigt.
Vor der Dritten Sinfonie steht Scartazzinis Spiriti (2019). Der düstere Beginn dieser Komposition spiegelt die „schweren und dumpfen“ Passagen des ersten Satzes wider. Diese Atmosphäre wird nach und nach von hohen kontrastierenden Streicherklängen abgelöst, jedoch nur für kurze Zeit, denn die Atmosphäre des Anfangs kehrt wieder. Ein weiterer lebhafterer Gedanke vermischt sich daraufhin mit dem Anfangsgedanken und die hohen Streicherklänge kehren wieder. Das Geschehen wird gegen Ende immer mehr von markanten Paukenschlägen dominiert, welche in einem letzten crescendo mit den ersten zwei Noten des einleitenden Hornmotivs der Sinfonie zusammenfallen.
Für einen wesentlich längeren Zeitraum verschmilzt Einklang (2021) mit der darauffolgenden Fünften Sinfonie Mahlers. Es beginnt mit einem äußerst gedehntem, aus dem Nichts kommenden crescendo, das in einen leisen spektralartigen Klang führt. In langsam an- und abschwellender Dynamik treten zu diesem Klang Akkorde der Bläser. Nach einem Höhepunkt der Streicher in der Mitte des Werkes entfaltet sich sogar eine Art Kantilene. Dieses Werk hat in gewisser Weise einen etwas in sich gekehrten oder elegischen Charakter. Der spektrale Klang der Streicher bildet die Grundfläche für die anfängliche Trompetenfanfare des Trauermarsches des ersten Satzes von Mahlers Sinfonie.
Simon Gaudenz Deutung von Mahlers Sinfonien ist insgesamt recht ausgewogen. Ein souveräner Zugang zeugt von der langen Auseinandersetzung mit Mahlers Werken, eigenständige Interpretationsansätze sind klar vernehmbar. Dabei ist die Klanglichkeit des Orchesters großenteils transparent und durchhörbar. Die Trompetenfanfare am Beginn der Fünften ist allerdings, wie die Trompetenstimmen in den vorliegenden Aufnahmen generell, ungewöhnlich leise ausgepegelt, und wird im bald einsetzenden Orchestertutti nahezu unhörbar. Ähnlich auffallend ist die klangliche Zurücknahme der Trompeten (die hier laut Partitur vorwiegend fortissimo spielen sollen) in der Coda des Scherzos derselben Sinfonie (T. 764), wie der Vergleich etwa mit Herbert von Karajans auch vom Tempo her sehr unterschiedlicher Aufnahmen derselben Stelle zeigt (Audiobsp. 1). Auch auf der Klimax des Kopfsatzes der Zweiten Sinfonie (T. 325–329), wo die Trompeten die Oberstimmen des Orchesterklangs bilden, gehen diese zu stark im Gesamtklang auf. Im Vergleich dazu überstrahlen die Trompeten in Otto Klemperers Einspielung an dieser Stelle deutlich, vielleicht zu stark, das turbulente Geschehen (Audiobsp. 2).
Die zentrale Rolle der Blechbläser wird in der kräftigen Interpretation des ersten Satzes der Dritten Sinfonie hingegen sehr überzeugend herausgearbeitet. Ähnliches gilt für einige Passagen der Sechsten Sinfonie, wo besonders die klangliche Verbindung von Kopfsatz („Heftig, aber markig“) und Scherzo („Wuchtig“, hier als dritter Satz) gelungen ist. Auch im Verlauf des Finales kommt der von Mahler hier verlangte „rohe“ Klang (T. 385) gut zur Geltung.
Der „schattenhafte“ Charakter des Scherzos der Siebten Sinfonie wird gleichfalls gut getroffen, obgleich gelegentlich eine größere Differenzierung zwischen pianissimo (bzw. piano) und fortissimo wünschenswert wäre. Doch ist der erste kurze Fortissimo-Ausbruch dieser „dritten Nachtmusik“ mit dem Glissando der Klarinetten (T. 26) besonders einprägsam interpretiert (Audiobsp. 3). Einen ähnlichen klanglichen Charakter entfaltet Gaudenz im Scherzo der Vierten Sinfonie. Durch die klare Differenzierung der Dynamik entsteht hier eine besonders gespannte Klangatmosphäre.
Auch die langsamen Sätze des bisher veröffentlichten Zyklus zeichnen sich durch eine eigenständige Deutung aus. Obwohl sie musikalisch recht verschieden angelegt sind, ist ihnen doch ein eher zügiges Tempo gemeinsam. Der dadurch oft erfrischend wirkende Zugang ist vor allem im Adagietto der Fünften und im letzten Satz der Dritten Sinfonie zu spüren. Diese liegen mit Dauern von 8:50 und 21:29 Minuten recht deutlich unter den durchschnittlichen Dauern dieser Sätze (10:20 bei 301 Aufnahmen bzw. 23:15 bei 151 Aufnahmen). Auch wenn die Gesamtdauer nur bedingt eine Aussage über Details der Tempogestaltung zulässt, ist dadurch doch bereits die „fließende“ Tendenz in Gaudenz’ Deutungen angezeigt.
Hinsichtlich der Tempogestaltung sind sonst vereinzelte Unstimmigkeiten hinsichtlich der Interpretation von Anweisungen wie „Nicht eilen“ oder „Nicht schleppen“ zu beobachten, die in den vorliegenden Einspielungen immer wieder als eine Art neues Tempo verstanden werden. Dadurch bekommt die Musik an solchen Stellen einen mitunter zu blockhaften Charakter. Besonders auffallend ist dies zu Beginn der der Coda im ersten Satz der Siebten (T. 495), wo der Wechsel zum 3/2-Metrum aufgrund der Angabe „Nicht eilen“ deutlich breiter genommen wird als das Tempo zuvor, trotz Mahlers Hinweis auf den gleichbleibenden Viertelpuls (T. 494), eine Wendung, die freilich in der Interpretationsgeschichte dieses Satzes weit verbreitet ist (Audiobsp. 4).
Eine freiere Behandlung des Grundtempos ist in der Mahler-Interpretation zwar generell zu beobachten, manche abrupten Tempoänderungen in Gaudenz’ Deutung irritieren aber besonders dort, wo sie nicht durch Ausführungsanweisungen ausgelöst sind. So entstehen immer wieder Momente größerer Diskontinuität, mitunter verbunden mit einem deutlich vernehmbaren Spannungsabfall. Das kann anhand eine Stelle kurz nach der Reprise im zweiten Satz der Fünften nachvollzogen werden: Hier steht die Tempoangabe „Etwas langsamer (ohne zu schleppen)“ (T. 356) erst vier Takte nach der von Gaudenz vorgenommenen Tempoänderung, eine Tendenz, die sich freilich auch an dieser Stelle in einer Vielzahl von Aufnahmen findet. Nur wenige Interpretationen, etwa Dimitri Mitropoulos (New York Philharmonic, 1960) oder Giuseppe Sinopoli (Philharmonia Orchestra, 1985), verbleiben hier bis zum Einsatz des Seitenthemas auf der Tempoebene der vorangehenden Entwicklung (Audiobsp. 5).
Die komplexe über 100 Takte lange Temposteigerung am Ende des Finales der Fünften ist in der vorliegenden Einspielung hingegen sehr geglückt. Die sukzessive Tempozunahme ohne plötzliche Wechsel ist gleichmäßig über den gesamten Abschnitt verteilt und kulminiert in einem mitreißendem Schluss-Presto. Nach dem zweiten Hammerschlag (T. 479) im Finale der Sechsten erscheint mir dagegen das „Stets etwas drängend“ (T. 504) wiederum als etwas zu abrupter Tempowechsel.
Überaus stimmig ist der Anfang der Vierten Sinfonie in der interpretatorisch anspruchsvollen Verbindung der beiden verschiedenen Tempoebenen. Die Klarinetten reduzieren das Tempo am Ende des dritten Taktes im Verbund mit dem „etwas zurückhaltenden“ Auftakt der ersten Violinen, während Flöten und Schellen unbekümmert im Tempo verbleiben. Die Temporelation dieser drei Anfangstakte zum folgenden Haupttempo wurde in der Interpretationsgeschichte dieses Satzes auf verschiedenste Arten gelöst. Gaudenz steuert an dieser Stelle ein gegenüber den einleitenden Takten nicht viel, aber doch spürbar schnelleres Haupttempo an (86/89 Schläge pro Minute). Bei der Wiederkehr der Einleitung und des Hauptthemas in den Takten 72 bzw. 77 wird die Situation nur geringfügig anders gelöst: Beide Tempi sind hier exakt gleich (88 Schläge pro Minute). Dennoch wird der in Takt 80 stattfindende Übergang zu „Fliessend“ (96 Schläge pro Minute) deutlich wahrnehmbar (Audiobsp. 6).
Zusammenfassend lässt sich die Interpretation der Jenaer Philharmonie unter Simon Gaudenz als spürbar ambitioniert beschreiben. Eigenständige Nuancen sind in ausgewogener Form vernehmbar und ziehen sich deutlich durch die bisher veröffentlichten Aufnahmen des Zyklus. Extreme Tempi und Dynamik oder überschwängliche Gefühlsausbrüche sind selten – kultiviertes Orchesterspiel und eine feine Tongebung ohne viel Risiko stehen im Vordergrund. Zusammen mit der Kombination von Mahlers Musik und den neuen Kompositionen Scartazzinis setzen diese Faktoren Mahlers Sinfonien in ein neues Licht und tragen zur Eigenständigkeit dieses Zyklus bei.